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Rituale in Zeiten der Unsicherheit
Pandemien sind Treiber neuer Verhaltensnormen. Was passiert im Umbruch? Rituale, Ziele, geplante Veränderungen: Eine neue Studie zeichnet ein Zukunftsszenario unter dem Duktus der Prävention.

Kategorie

Text, Journalismus

Jahr

2021

Mindestens 40 Prozent unseres Alltags sind durch Gewohnheiten bestimmt. Der Autopilot, den wir nicht mehr hinterfragen. So konsumieren 83 Prozent der Österreicher eine Form von Medien, bevor sie aus dem Haus gehen. 85 Prozent der 12- bis 17-jährigen Deutschen verbringen etwa drei Stunden in Sozialen Medien – täglich. Und die Schweizer sind jeden Tag im Schnitt eineinhalb Stunden im Verkehr unterwegs. Häufig zur gleichen Zeit und auf derselben Strecke, etwa im allmorgendlichen Pendlerzug.

Damit ein Verhalten zu einer Gewohnheit wird, muss man es über 66 Tage wiederholen. Auf Gewohnheiten vertrauen wir vor allem, wenn unser Alltag stabil ist. Was aber passiert im Umbruch? Jobwechsel, Trennung, Umzug – oder eine sich plötzlich aufbauende Pandemie? Diese Fragen stellte sich das Gottlieb Duttweiler Institut in einer neuen Studie.

Ändern sich die Rahmenbedingungen, müssen wir unser Verhalten anpassen. Gewohnheiten gehen verloren, andere richten sich ein. Es gilt, so die Studie, ein resilientes Gesundheitsverhalten an den Tag zu legen, das nicht nur den Veränderungen standhält, sondern die Formbarkeit der Gewohnheiten nutzt, um das eigene Verhalten in eine positive Richtung zu verändern.

Eine Übersicht von während der Pandemie durchgeführten Studien zeige, dass viele Menschen ihr Verhalten geändert hätten. Einige in eine gesündere Richtung, andere nicht. Die psychische Gesundheit, soziale Einbettung, Bildung, Einkommen, Alter und Geschlecht waren dabei wichtige Faktoren, so das Duttweiler Institut. Und sie hingen mit der Fähigkeit der Selbstregulation zusammen.

Die Pandemie verändert

Pandemien waren immer Treiber für neue Verhaltensnormen, so die Studie. Seit der Cholera wurde nicht mehr aus gemeinsamen Krügen getrunken. Öffentliche Spucknäpfe gab es nach der Spanischen Grippe nicht mehr. Und bis Corona stieg man noch ohne Mundschutz in ein öffentliches Verkehrsmittel.

Die Corona-Pandemie hat das Verhalten der Menschen in vielerlei Hinsicht verändert. Das lässt sich unter anderem an den Suchbegriffen ablesen, die Google registriert. „Brot backen“, „Joggingschuhe“ und „Yogamatte“ erlebten im Frühjahr 2020 einen nie dagewesenen Hype und bewegen sich seitdem weiterhin über dem Vorkrisenniveau.

Aus den bisherigen Studien lässt sich nicht ableiten, dass sich das gesamtgesellschaftliche Verhalten in diesen Faktoren in eine Richtung verändert hat. Wie jede Disruption kann sie positive wie negative Verhaltensänderungen anstoßen, bilanziert auch das Duttweiler Institut. Es stellt sich also die Frage, wer wie reagiert.

Grundsätzlich lässt sich im Querschnitt der Studien feststellen: Je stärker der Alltag verändert wird, desto mehr Verhaltensänderungen sind die Folge. Und dabei ist es tendenziell einfacher, sich in eine negative Richtung zu verändern.
Mehrere Studien finden einen Zusammenhang zwischen körperlicher Aktivität und psychischer Gesundheit. Der Rückgang psychischer Gesundheit korreliert dabei mit negativen Veränderungen wie weniger Schlaf, häufigerem Überessen, Alkoholkonsum oder Rauchen.

Die soziale Einbettung ist während der Pandemie ein wichtiger Faktor. Wer den Lockdown nicht in Einsamkeit, sondern mit Partner oder der Familie verbrachte, naschte weniger, rauchte und trank weniger Alkohol und bewegte sich mehr, zitiert die Duttweiler-Studie mehrere andere Untersuchungen. Auch war besser dran, wer eine höhere Bildung genossen hat und keine finanziellen Sorgen während der Pandemie hatte. Frauen und jüngere Menschen hatten laut weiterer Studien mehr gesundheitliche Probleme, wobei Frauen trotzdem keine negativeren Veränderungen ihres Gesundheitsverhaltens als Männer an den Tag legten.

Geldsorgen wirken wie Schlafmangel

Geraten Gewohnheiten durcheinander, so geschieht dies häufiger in eine negative Richtung, so die Studie. Oft geht es um Verhaltensweisen, in denen die ungesunde Veränderung einfacher ist. Mit dem Joggen aufzuhören ist einfacher, als damit zu beginnen. Positive Veränderungen bedürfen einer bewussten Koordination.

Die Forschung zeige stets einen Zusammenhang mit Selbstregulation, heisst es weiter. So führten Stress oder Depression zu verringerten Kapazitäten der Selbstregulation und zu kurzfristigerem Denken. In Gegenwart anderer Menschen richteten wir mehr Aufmerksamkeit auf unser Verhalten. Auch wirkten sich Geldsorgen negativ aus: Die durch akute Geldsorgen verursachte kognitive Einschränkung sei vergleichbar mit der Wirkung einer schlaflosen Nacht oder einer Reduktion von 13 IQ-Punkten.

Bildung hänge weiter mit der Fähigkeit der Selbstregulierung zusammen. Menschen, die ihr Verhalten besser kontrollieren könnten, hätten mehr akademischen Erfolg, und genauso würde die Fähigkeit der Selbstreflektion durch Bildung verstärkt.

Was also tun?

Wie kann man die Selbstregulation stärken, fragt das Gottlieb Duttweiler Institut und leitet die Ausführungen zu dieser Frage kulant ein: diejenigen, die sich während der Pandemie ungesund verhielten, sollten nicht als charakterschwach oder ohne Willenskraft dargestellt werden.

Finanzielle Hilfeleistungen könnten zum Beispiel helfen. So zeige sich entgegen dem Klischee, dass ärmere Menschen Geld für Alkohol und Drogen ausgäben, dass eine finanzielle Absicherung bei Menschen in Geldnot zu einer Verringerung von Ausgaben in Güter wie Alkohol oder Tabak führe.

Weiter bezieht die Studie das allgemein populäre Thema der Achtsamkeit mit in die Überlegungen ein. Mit einem entsprechenden Training könne die Aufmerksamkeit gegenüber Umweltreizen geschärft werden. Auch würden Körperempfindungen, Gedanken oder Emotionen besser wahrgenommen und verstanden. Insgesamt werde Achtsamkeit mit dem Gefühl in Verbindung gebracht, Kontrolle über das eigene Leben zu haben. Genau dieses Gefühl sei entscheidend für die Wirkung lebensverändernder Ereignisse.

Rituale werden in Zeiten der Unsicherheit wichtiger, so die Studie weiter. Rituelles Handeln sei nicht nur Mittel zur Zielerreichung, sondern selbst etwas Besonderes. Dadurch werde es zu etwas, was Menschen gerne tun. Das Ritual könne ein Verhalten verschönern und dazu auch beruhigend wirken. Rituale erzeugten Ordnung und Vorhersehbarkeit und könnten ein Gefühl der Kontrollierbarkeit herstellen.

Konkrete Pläne und Ziele helfen laut Studie auch. Für die Selbstregulation seien sie sogar notwendig; nur dann könne man sein Verhalten an etwas orientieren und feststellen, wenn man vom Kurs abweiche.

Und genauso wichtig könnten geplante Veränderungen des Alltags sein, um Gewohnheiten zu hinterfragen. Durch das Herausreißen aus dem Alltag würden nicht nur bestehende Gewohnheiten und Meinungen bewusst gemacht und hinterfragt. Es werde auch eine Selbstwirksamkeit im Umgang mit Neuem entwickelt. Durch ihre Planbarkeit verursache die Disruption weniger Stress und sei kontrollierbarer.

Zukunft

In einem Szenario beschreibt die Studie des Gottlieb Duttweiler Instituts dann, wie die Gesellschaft 2040 aussehen könnte, wenn Prävention eine viel wichtigere Rolle im Gesundheitswesen einnimmt, als dies laut Studie heute der Fall ist.

Dazu brauche es allerdings einen Wandel hin zu einem ganzheitlicheren Verständnis von Gesundheit, so die Ausführungen weiter. Diese werde durch eine „zunehmende Vermessung des Menschen“ vereinfacht. Von Schrittezählern bis zu smarten Toiletten lieferten unterschiedliche Sensoren Daten. Gesundheit sei ein lebenslanges Projekt. Durch den Siegeszug der Quantified-Self-Bewegung werde Gesundheit ein dynamisches System, welches stets in einem Gleichgewicht gehalten werden müsse.

Diese und weitere Überlegungen werfen freilich grundsätzliche ethische Fragen nach Autonomie und Freiheit des Individuums auf. Diese werden im Fazit der Studie kurz gestreift, dann aber – etwas pauschalisierend – damit beendet, dass die Rolle von Szenarien nicht sei, Zukunftsängste zu schüren. Als Baustein einer vertieften Diskussion über Zukunftsszenarien erscheint die Studie interessant. Hilfreich wäre natürlich, wenn sich Auftraggeber wie Autoren dann in eine entsprechende Diskussion mit einbrächten.

Kontroversen

Wollte man die Debatte über das gezeichnete Zukunftsszenario führen, eigneten sich gleich mehrere Punkte als Ansatz. Auch wenn das Zukunftsszenario davon ausgeht, dass zum Zeitpunkt 2040 ein innerer Wandel stattgefunden haben wird, müsste bei so grundlegenden Fragen zumindest die Genese dieses Wandels erläutert werden. Der reine Verweis auf den Segen „zunehmender Verdatung“ ist verkürzt.

Die Studie setzt dabei auf soziale Normen. Menschen orientierten sich an anderen Menschen, was wiederum die Sozialen Medien auf den Plan brächte. Einerseits identifizierten sich Menschen mit einem Verhalten noch stärker, wenn sie es nach außen trügen. Dadurch werde das Verhalten stabiler. Andererseits entstehe eine Norm, sich gesund zu verhalten, was wiederum andere imitierten.

Hier lässt die Studie jedoch vollkommen offen, wie nachhaltig mit dem substanziellen und vollständig in die Privatsphäre eindringenden sozialen Druck umgegangen werden sollte, unter dem besonders Heranwachsende als Akteure wie Konsumenten sozialer Medien leiden. Social Media sei nicht ein neutrales Abbild der Welt, und es gehe eher darum, die eigenen gesundheitsförderlichen Verhaltensweisen auf Social Media in ein gutes Licht zu rücken, heißt es da. Ob sich dieser Ansatz vor dem Präventionsgedanken für psychische Gesundheit halten ließe, müsste diskutiert werden.

Um die Bereitschaft der Bevölkerung zu steigern, soll in Bildung investiert werden, so die Autorinnen und Autoren weiter. Menschen sollten in der Lage sein, mündige Entscheidungen bezüglich ihrer Gesundheit zu treffen. Dafür sei Wissen notwendig. Auch hier wird auf Big Data gesetzt, um präzise Vorhersagen gesundheitlicher Konsequenzen erstellen zu können.

Unter dem Stichwort der Selbstregulationsfähigkeiten suchen die Autorinnen und Autoren dann, zu erläutern, wie all dies in die Tat umzusetzen sei. Hier wird auf ein breites Angebot psychologischer Betreuung gesetzt, auf Psychotherapeuten, Gesprächsgruppen, Gesundheitscoachs. Digitale Assistenten, die darauf programmiert seien, Stress und Depressivität bei ihren Nutzenden etwa basierend auf ihren Social Media – Posts zu erkennen und entsprechend Maßnahmen oder einen Austausch mit Fachleuten vorzuschlagen. Gesundheitscoachs verschreiben Kochkurse. Ritualisierungen des Verhaltens sollen Gewohnheiten festigen, indem zum Beispiel bestimmte Kleider getragen werden. Menschen sollen sich damit identifizieren, dass sie jemand sind, der oder die sich gesund verhält. Und die digitale Registrierung des kompletten Verhaltens zeigt auf, wo sie dies doch nicht tun.

Dieses Zukunftsszenario zeichnet das Bild eines Gesundheitsdiktats, welches das Individuum von seiner Individualität entkoppelt und damit genau das Gegenteil der gewünschten Ermöglichung erreicht.

Selbstregulation sei nötig, damit die Gewohnheitsveränderung in eine für das Individuum wünschenswerte Richtung gehe, heisst es. Doch wer legt fest, was wünschenswert ist? Dass laut Studie auch Social-Media-Influencer zu Playern im Gesundheitssektor erhoben werden, ist zumindest Stand heute ausgesprochen bedenklich, orientiert sich der ökonomisch denkende Influencer doch nicht zuletzt daran, von wem er für welches Geld gebucht wird, um welche Botschaft zu verbreiten.

Massnahmen zur Stärkung der Selbstregulation machten keine Verhaltensvorschriften, sondern dienten der Selbstermächtigung, heisst es. Das wünschenswerte Verhalten impliziere ein Richtig und Falsch, könne aber auch auf einer völlig subjektiven Ebene betrachtet werden. Damit dies nicht nur auf dem Papier, sondern in einer real existierenden Gesellschaft funktionieren könnte, müsste wohl die gesamte psychologische Gruppendynamik umgeschrieben werden.

Die Studie spricht die Mündigkeit des Individuums an, die Selbstverantwortung des Einzelnen, das Recht auf ein ungesundes Leben. Im Kontext des gezeichneten Szenarious absolut essenzielle Fragen, die jedoch gestellt, aber nicht beantwortet werden. Der blosse Verweis darauf, dass man entsprechend argumentieren könnte, genügt dann nicht, wenn das eigene Produkt den Titel „Studie“ trägt.

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