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«Niemanden zur Einsamkeit zwingen»

Ein neues Positionspapier fordert die Politik auf, bei Pandemiemassnahmen die Perspektive derjenigen einzunehmen, die am stärksten betroffen sind. Zum Beispiel Bewohnerinnen und Bewohner von Institutionen der Langzeitpflege.

Kategorie

Text, Journalismus

Jahr

2021

Gesellschaftliche Krisen wirken wie Trichter, an deren engster Stelle, wo der Druck am grössten ist, die Probleme in verdichteter Form zutage treten. Einer dieser Orte sind die Institutionen der Langzeitpflege. Im Blick auf die Sterberaten durch das Coronavirus sind sie zum gefährlichsten Ort in der Schweizer Gesellschaft geworden.

Erkenntnisse aus dem aktuellen Positionspapier «Menschenwürde in der Krise» der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz EKS. Das dürfe nicht einfach hingenommen werden, wird da betont: Nötiger denn je sei eine breite und starke gesellschaftliche Solidarität.

Bereits der Titel des Dokuments macht die Komplexität der Lage deutlich. Ist die Menschenwürde in der Krise oder geht es um Menschenwürde in der Krise? Um beides, so der Autor und Ethiker Frank Mathwig. Absichtlich fehlt hinter dem Titel das Satzzeichen.

Corona bedroht alle Menschen, aber nicht alle Menschen gleich. Auch wirken sich die Schutzmassnahmen sehr unterschiedlich aus. Besonders diejenigen in Alters- und Pflegeheimen oder Langzeitinstitutionen sind überproportional stark betroffen. Hochbetagte, Menschen mit Beeinträchtigungen oder Mehrfacherkrankungen, die auf beständige Hilfe angewiesen sind, Demenzerkrankte.

Die Institutionsleitungen stecken durch die Pandemie im Dilemma. Einerseits sind sie für Sicherheit und Gesundheit der Bewohnenden und der Angestellten verantwortlich. Andererseits sind sie den Werten und Zielen einer qualitativ hochstehenden, menschenwürdigen und integrativen Betreuung verpflichtet.

Das Papier versteht sich jedoch ausdrücklich nicht als Institutionenkritik, so Frank Mathwig: «Es ist die Frage, inwiefern die Institutionen durch die politischen Massnahmen in eine Situation kommen, in der sie zu einem Handeln genötigt werden, das ihren eigenen Überzeugungen widerspricht. Insofern geht es um die Verteidigung der Institutionen.»

Die prekäre Situation für alle Beteiligten werde von den staatlichen Institutionen nur unzureichend anerkannt, so das Positionspapier. So entstehe der berechtigte Eindruck, von der Politik übersehen und alleingelassen zu werden. Die Debatten über die staatlichen Pandemiemassnahmen würden zudem fast ausschliesslich aus der Perspektive aktiver und gesunder Bürgerinnen und Bürger geführt. Weitgehend ausgeblendet bliebe die Sicht derjenigen, die aufgrund ihrer Abhängigkeit in ungleich grösserem Ausmass von der Pandemie und den staatlichen Schutzbestimmungen betroffen seien.

«Massnahmen zum Gesundheitsschutz können krank machen», so Mathwig. Zwar werde der Schutz vor dem Virus vergrössert, gleichzeitig aber brächen andere Gesundheitsrisiken auf, die oft mit sozialer Isolation und Perspektivlosigkeit verbunden seien. Hier hätten Politik und Gesellschaft von der ersten zur zweiten Welle viel gelernt. «Wegzukommen von einem rein medizinischen Fokus, der nur auf das Virus starrt wie das Kaninchen auf die Schlange und davon ausgeht, dass die Medizin alle Probleme lösen könne. Eigentlich fangen damit aber die Probleme erst an.»

Die Frage sei, ob man nur das biologische Leben schützen, also schlicht überleben wolle, so Mathwig. «Das ist dann wie das Rettungsboot, in das man von einem sinkenden Schiff springt.» Eine unkomfortable, aber kurze Zwischenphase, bevor man von einem anderen Schiff aufgenommen werde. «Zu Beginn der Corona-Pandemie konnte die Politik nicht wissen, dass wir uns mittel- oder langfristig darauf einrichten müssen, in dieser unkomfortablen Situation zu leben. Es ist aber unmöglich, nur zu überleben und die Gesellschaft quasi auf das Rettungsboot zu verfrachten und zu sagen: das ist es jetzt.» Vielmehr gehe es darum, auch die anderen, sozialen Dimensionen des Lebens zu schützen: Teilhabe und das Eingebundensein in eine grössere Gemeinschaft. Inzwischen habe man aber den Fehler begriffen, die ganze Gesellschaft zu einem Spital zu machen und die Politik zu Ärztinnen und Ärzten.

Ethische Überlegungen

Für Menschen in Alters- und Pflegeheimen sowie Langzeitinstitutionen bilden Besucherinnen und Besucher eine Brücke zu ihrer ursprünglichen Lebenswelt und können deshalb eine für die Identität und Biographie grundsätzliche Bedeutung haben. Freiheitsbeschränkungen, so die EKS-Studie, können eine empfindliche Belastung für die Integrität der Person und ihrer Lebensgeschichte werden.

Die Coronamassnahmen folgen der Abstufung Gesundheitsschutz vor Lebensschutz vor Freiheitsschutz. In die Freiheiten der einzelnen Person, so die Stellungnahme, darf der liberale Rechtsstaat nur dann eingreifen, wenn die Interessen der Allgemeinheit anders nicht geschützt werden können.

Die restriktiven Massnahmen in den Intstitutionen gelten jedoch nicht der Allgemeinheit, sondern werden mit dem Selbstschutz der Betroffenen begründet. Dieses Anliegen, so die Stellungnahme, müsse jedoch im Einzelfall begründet werden. Denn zu den Freiheitsrechten einer jeden Person gehöre das Recht, die eigene Gesundheit und das eigene Leben zu riskieren.

Nicht Freiheiten, sondern Freiheitsbeschränkungen seien begründungspflichtig. Wenn ethische Güterabwägungen vorgenommen würden, dürften nicht partikulare moralische Werte oder Präferenzen gegen Grundrechte aufgerechnet werden. «Die Freiheit hat gelitten in dieser Pandemie», so Mathwig. Deshalb werfe sich die grundsätzliche Frage auf, was die Freiheit eigentlich wert sei.

Auch sei die Vertrauensbeziehung zwischen Helfenden und Hilfsbedürftigen ein hohes und schützenswertes Gut. Es werde von den Pandemiemassnahmen gefährdet, wenn die Umsetzung in die Hände derjenigen gelegt werde, die strukturell auf und an der Seite der Betroffenen stünden.

Die stille Triage des Sterbeortes

Gegenüber der ersten Coronawelle sterben mehr betagte Menschen – und ein immer grösserer Anteil stirbt ausserhalb des Spitals in Alters- und Pflegeheimen. Die Vermutung liegt nahe, dass viele alte Menschen nicht mehr überwiesen werden, um das Spitalsystem nicht zu belasten. Diese in den Worten der Medizinerin und Ethikerin Tanja Krones «stille Triage» stelle ein ganz neues Problem dar. Grundsätzlich könnten solche Entscheidungen auch jenseits der Notfallmedizin stattfinden. Weil es sich jedoch um fundamentale Entscheidungen über Leben und Tod eines Menschen handele, dürften diese nur in sorgfältiger Ermittlung des Willens der betroffenen Person von Teams und Fachleuten mit einer entsprechenden Qualifikation getroffen werden.

Tatsächlich sind in der zweiten Welle mit 2686 mehr Menschen in Alters- und Pflegeheimen gestorben als im Spital mit 2138. Das belegen Zahlen des Bundesamtes für Gesundheit vom Januar 2021. Allerdings wollen laut Branchenverband Curaviva viele Bewohnerinnen und Bewohner schlicht nicht ins Spital. Durch Patientenverfügung oder durch Willensäusserung möchten viele auch bei einer Corona-Erkrankung in der Institution bleiben, die ihr Zuhause ist, so der Verband gegenüber 20Minuten.

Die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften SAMW hat schon 2013 medizinethische Richtlinien für die Triage bei intensivmedizinischen Massnahmen ausgearbeitet. Angesichts der Corona-Pandemie hat die Akademie im vergangenen Jahr die Richtlinien mit einem Anhang zu Triageentscheidungen bei Ressourcenknappheit ergänzt. Ende des Jahres folgte dann eine weitere Überarbeitung, in der unter anderem die ethischen Prinzipien präzisiert wurden. So wurde expliziter formuliert, dass es immer darum gehe, Entscheidungen so zu treffen, dass möglichst wenig Menschen sterben. Auch die Prinzipien der sorgfältigen Beobachtung und nicht zuletzt der Reevaluation des Patientenwillens wurden verdeutlicht.

Nicht ganz nebenbei verweist Tanja Krones in einer Veranstaltung des Politforums Bern noch auf einen bislang kaum diskutierten, aber dramatischen Aspekt: Auf den Intensivstationen lägen nicht die Hochbetagten, sondern die Armen. Menschen in prekärer sozialer Lage, die sich weder Homeoffice leisten noch auf den öffentlichen Verkehr zum Arbeitsort verzichten könnten.

Nicht zur Einsamkeit zwingen

Bei Menschen, deren Freiheitsmöglichkeiten bereits durch ihre Lebens- und Gesundheitssituation eingeschränkt sind, führten die staatlichen Massnahmen zu einer viel grösseren Unfreiheit, als bei Menschen, die von ihren Freiheiten beliebig Gebrauch machen könnten, so die EKS-Stellungnahme weiter. Wenn dazu das Personal, das eigentlich die Aufgabe hätte, die persönlichen Freiheitsbeschränkungen zu kompensieren, stattdessen zum Durchsetzungsorgan staatlicher Freiheitsbeschränkungen werde, führe das zu noch grösserer Unfreiheit und gefährde das gesamte System.

Die Lasten der Pandemiekrise müssen gerecht verteilt werden, heisst es weiter. Voraussetzung dafür seien elementare Rechtsgarantien wie das Recht, das eigene Leben mit den Menschen zu teilen, mit denen ein Mensch sein Leben teilen wolle und das Recht, in existenziellen Lebenssituationen nicht isoliert und zur Einsamkeit gezwungen zu werden.

«Die Pandemie hat Politik und Gesellschaft über Nacht zurück auf die Schulbank geschickt. Wir mussten lernen, dass das, was gestern noch galt, bereits heute überholt sein kann», so Frank Mathwig. «Wir erleben Wissenschaft in Echtzeit: Hypothesen werden aufgestellt und daraus Handlungsstrategien abgeleitet. Neue Erkenntnisse nötigen dazu, die Hypothesen zu verändern oder durch neue zu ersetzen und das Handeln entsprechend anzupassen.»
Längst habe man einsehen müssen, dass der medizinische Blick auf Vulnerabilität viel zu eng sei und viele ebenfalls massiv betroffene gesellschaftliche Gruppen ausgeblendet habe: Kinder, Jugendliche, Alleinerziehende oder Menschen und Familien in schwierigen sozioökonomischen Lebenslagen. Durch die Virus-Mutationen seien immer stärker auch junge Menschen von schweren Krankheitsfolgen betroffen.

«Niemals war die Zukunft weiter weg, als in der Pandemie, weil niemand genau sagen kann, wie es morgen sein wird. Flexibilität und Beweglichkeit sind gefordert. Nutzlos ist es dagegen der Appell: Wir haben ein Jahr lang Entbehrungen und Anstrengungen in Kauf genommen. Das muss endlich honoriert werden. Vielmehr gilt: Das Virus ist verdammt unmoralisch und komplett erbarmungslos.»

Die Zukunft

Im vergangenen Jahr veröffentlichten zehn Medizinethikerinnen und Medizinethiker in der Schweizerischen Ärztezeitung einen Appell an die Verantwortungsträger aus Politk, Management, Pflege und Betreuung. «Pandemie: Lebensschutz und Lebensqualität in der Langzeitpflege» hiess der auch von Tanja Krones unterzeichnete Text. Dort wird die grosse Verantwortung der Behörden im Anordnen von Schutzmassnahmen anerkannt.

Gleichzeitige heben die Autorinnen und Autoren hervor, dass bei deren Umsetzung der Schutz des Lebens mit dem Schutz der Persönlichkeit und der Lebensqualität einhergehen müsse. Darin wird unter anderem gefordert, engen Angehörigen und Bezugspersonen solle der Zugang zu urteilsunfähigen Personen gewährt werden. Ganz grundsätzlich müssten die verfassungsmässig garantierten Freiheitsrechte der Bewohnerinnen und Bewohner von Einrichtungen der Langzeitpflege vollumfänglich gewährleistet werden. Im Hinblick auf eine neue Pandemiewelle sollten entsprechende Massnahmen vorbereitet werden, um die Persönlichkeitsrechte der Bewohnenden auch unter Isolationsbedingungen zu gewährleisten.

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