Text / Diakonie Schweiz
Organspende: Geben oder nehmen?In der Schweiz gibt es nach wie vor zu wenig Organspender. Auch im internationalen Vergleich liegt die Schweiz zurück, gab vor einiger Zeit die Neue Zürcher Zeitung zu bedenken. In der Tat steigt die Zahl der Spenderinnen und Spender, sie bewegt sich jedoch im Vergleich zu den Wartelisten auf ein Organ auf niedrigem Niveau. So spendeten 2005 ganze 84 lebende Personen ein Organ, weiter konnte 90 verstorbenen Personen ein Organ entnommen werden. Im Jahr 2017 lagen diese Zahlen bei 137 lebenden und 145 verstorbenen Personen, 2019 bei 110 lebenden und 157 verstorbenen Personen.
In Relation sieht das so aus: 2005 gab es 11 lebende und 12 verstorbene Spenderinnen und Spender pro Million Einwohner in der Schweiz. 2017 waren dies 16 lebende und 17 verstorbene, bei den verstorbenen Personen stieg die Quote 2019 auf 18.4. Gleichzeitig warteten 2005 555 Personen mit dem Status „aktiv“ auf ein Organ, 2017 waren dies 689, 2019 sogar 715. Aktiv bedeutet, dass eine Transplantation medizinisch möglich ist. Bei den „inaktiven“, also aus Krankheitsgründen nicht transplantationsfähigen Wartenden, stieg die Zahl von 313 auf 789 im Jahr 2017 und stand 2019 bei 700.
Geben oder nehmen?
Was spricht also gegen die Widerspruchslösung? Sie beruht auf der Annahme, dass die meisten Menschen Organe spenden würden, wenn sie ihre Haltung dokumentiert hätten. Und diese Unterstellung funktioniere nur, weil die Betroffenen in der entscheidenden Situation nicht mehr gefragt werden könnten, sagt Frank Mathwig. Der Professor für Ethik an der Universität Bern und Ethikbeauftragte Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz EKS hat für deren Vorgängerin, den Schweizerischen Evangelischen Kirchenbund, ein Argumentarium verfasst, in dem er eine kritische Position zur Widerspruchslösung einnimmt. Sie widerspräche fundamental den besonders in der Medizin so zentralen Selbstbestimmungs- und Persönlichkeitsrechten: „Auf der Schwelle des Todes scheinen diese Schutzrechte zu bröckeln.“
Für Mathwig entsteht der Eindruck, „als gehe der Körper einer Person in den Besitz der Gemeinschaft über, sobald er dieser Person seinen Dienst verweigert“. Die Widerspruchslösung drohe „auf eine Pflicht zur Entäusserung des eigenen Körpers an die Gemeinschaft“ hinauszulaufen.
Im März 2013 hat der Bundesrat deswegen den Aktionsplan „Mehr Organe für Transplantationen“ lanciert. Damit soll die Spendenrate auf 20 Personen pro Million Einwohnerinnen und Einwohner erhöht werden. Eine wichtige Rolle in der Debatte spielt dabei die Frage, ob von der derzeit im Gesetz festgeschriebenen Zustimmungslösung auf die Widerspruchslösung umgestellt werden soll.
Organspende: Zustimmung oder Widerspruch?
Im Jahr 2007 trat das Transplantationsgesetz in Kraft. Mit ihr wurde die sogenannte erweiterte Zustimmungslösung schweizweit eingeführt. Demgemäss dürfen einer verstorbenen Person Organe, Gewebe oder Zellen nur entnommen werden, wenn sie vor ihrem Tod einer Entnahme zugestimmt hat und der Tod festgestellt worden ist. Die Zustimmung zur Organentnahme nach dem Tod wird mit der Spendekarte dokumentiert. Auf dieser können auch die zur Spende freigegebenen Organe, Gewebe und Zellen detailliert genannt werden oder welche Vertrauensperson im Todesfall die Entscheidung über eine Organspende treffen soll. Schliesslich erlaubt die Karte auch den Vermerk über die grundsätzliche Ablehnung einer Spende. Erweitert» wird die Zustimmungslösung genannt, weil bei einer fehlenden Willensbekundung die nächsten Angehörigen mit entscheiden dürfen. Wissen diese von keiner Erklärung der verstorbenen Person, können sie einer Entnahme zustimmen.
Die Widerspruchslösung galt in den meisten kantonalen Regelungen vor Einführung des nationalen Transplantationsgesetzes. Sie fragt nicht nach dem zu Lebzeiten dokumentierten Willen einer Person. Vielmehr genügt ihr die Auskunft, dass eine Person einer Körperspende nicht explizit widersprochen hat. Das Fehlen einer solchen ausdrücklichen Ablehnung wird also als stille Zustimmung zur Spende gewertet.
Eine Organspende sei häufig die letzte und einzige Rettung für einen Menschen. Die Gesellschaft könne ohne die gegenseitige Empathie und Solidarität der Bürgerinnen und Bürger nicht bestehen. Daraus folgt laut Mathwig aber nicht, dass sich diese “auch gegenseitig ihre Organe schulden”. Die Logik der Widerspruchslösung nötige Menschen zu einer Entscheidung. Eine solche Entscheidungspflicht schränke “die grundrechtliche Freiheit, die eigene Meinung zu äussern oder zu verschweigen, empfindlich ein”.
Die Widerspruchslösung mache “aus dem eigenen Spenden ein fremdes Nehmen”. Werde eine fehlende Ablehnung automatisch als schweigende Zustimmung gewertet, werde das liberale Freiheitsverständnis “auf den Kopf gestellt”, denn aus dieser Sicht käme bei der Organspende “ausschliessliche die freiwillige Zustimmung in Betracht”.
Volksinitiative
Im Oktober 2017 wurde die Volksinitiative „Organspende fördern – Leben retten“ lanciert. Bisher wurden rund 140’000 Unterschriften gesammelt, die im Frühling 2019 bei der Bundeskanzlei eingereicht werden. Die Initiative sieht eine Verfassungsänderung vor, welche auf dem Grundsatz der vermuteten Zustimmung beruht. Gemäss der angestrebten Modalität wird von der Zustimmung zur Organspende ausgegangen, sofern die verstorbene Person zu Lebzeiten nicht widersprochen hat oder Angehörigen nicht bekannt ist, dass die verstorbene Person eine Organspende abgelehnt hätte.
Der Bundesrat hatte Mitte September eine Änderung des Transplantationsgesetzes als indirekten Gegenvorschlag zur Initiative in die Vernehmlassung geschickt. Die Revision sieht wie die Initiative einen Systemwechsel vor, bezieht aber die Angehörigen mit ein. Der Bundesrat wolle Rücksicht nehmen auf alle Positionen bei dieser schwierigen Frage, erklärte Gesundheitsminister Alain Berset. Die Widerspruchslösung gehe dem Bundesrat zu weit.
Auch die Evangelisch-reformierte Kirche Schweiz EKS spricht sich in Sachen Transplantationsgesetz gegen die Widerspruchslösung aus und unterstützt die Erklärungsregelung der Nationalen Ethikkommission.
Die Vorstellung eines Weitergabeautomatismus der eigenen Organe widerspreche grundlegend der jüdisch-christlichen Auffassung der Geschöpflichkeit allen Lebens, so die EKS in ihrer Vernehmlassungsantwort zur Änderung des Transplantationsgesetzes. Ein Organ habe nicht nur eine Funktion, sondern sei Teil der untrennbaren geistig-seelisch-physischen Einheit, welche die menschliche Leiblichkeit ausmache.
Man weise jeden Versuch zurück, moralischen Druck auf die Gesellschaft auszuüben und den Eindruck zu erwecken, als gingen die Organe Sterbender oder Verstorbener in die Verfügungsgewalt oder den Besitz der Allgemeinheit über, heisst es.
Die EKS lehnt sowohl das Ziel der Volksinitiative, eine enge Widerspruchslösung, als auch den indirekten Gegenvorschlag des Bundesrates einer erweiterten Widerspruchslösung ab. Dagegen unterstützt sie die Erklärungsregelung, die von der Nationalen Ethikkommission im Bereich Humanmedizin (NEK) in ihrer Position vorgeschlagen wird.
Danach soll die Bevölkerung regelmässig motiviert werden, sich mit der Frage der eigenen Organspende auseinanderzusetzen und sich verpflichtend dazu zu äussern. Jede Person ist danach verpflichtet, sich zustimmend, ablehnend oder nichterklärend zur Organspende zu verhalten.
Diese Regelung schütze das Selbstbestimmungsrecht und entlaste die Angehörigen, so die EKS. Die Aufforderung zur Auseinandersetzung mit dem Thema und zur expliziten Erklärung würde – sofern die Argumente der Initiative zutreffen – die Spendenbereitschaft erhöhen. Gleichzeitig fördere sie im Gegensatz zur Widerspruchslösung das Vertrauen der Bevölkerung in die Organspende, betont die EKS.
Spenden oder nicht?
Dass aus der eigenen Nicht-Entscheidung nicht die falschen Schlüsse gezogen werden dürfen, darauf macht Frank Mathwig aufmerksam. Dass die eigene Entscheidung unter Umständen den Angehörigen helfen kann, darauf macht die Kampagne des Bundesrates aufmerksam, über die eine Spendenkarte bestellt oder gleich online ausgefüllt werden kann. Ob die oder der Einzelne Organe spenden möchte oder nicht oder ob er oder sie sich überhaupt entscheiden möchte, ist und bleibt eine persönliche Entscheidung.
Was kann ich
für Sie tun?
TOM FLueGGE
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